Im ehemaligen Hafen von Göteborg. Wie auf den Wellen dümpelnde Kähne stehen die türkis-grauen Wohnblöcke zwischen brachen Asphaltflächen, einem Gemeinschaftsgarten und dem Hafenbecken. Marta und Hans verschwinden um die Hausecke, und mit ihnen das Knirschen ihrer Füße und Fahrradreifen auf dem Kies. Ich räume die letzten Dinge aus der Ferienwohnung, packe mein Rad, sperre den Schlüssel ins Kästchen, starte mein Navi und fahre los.
Wir waren eine knappe Woche zu dritt unterwegs, immer laut, meistens lustig, immer zusammen, Tag und Nacht. Wir haben viele Sonnenstunden gesehen, ein ganz klein wenig Regen, haben zwei Tage gegen Wind gekämpft und sehr viel öfter gegen den Zimtschneckenklumpen im Bauch. Ich habe mich sofort heimisch gefühlt in Schweden, sobald wir – zehn Minuten nachdem wir den Fähranleger in Trelleborg verlassen hatten – die erste Kaffeetasse in der Hand hatten. Die Weizenfelder im Wind, rote Holzhäuser, Birkenwälder, immer am Meer entlang. Am nächsten Tag der längste Sandstrand des Landes, immer wieder Cafés am Wegrand, wir wollen am liebsten überall anhalten, haben aber ja noch was vor. Single Trails genauso wie die Randstreifen von Landstraßen. Zwanzig Kilometer geradeaus, von Dorf zu Dorf, dann scharf rechts und mitten im Wald. Hoppeln über Kieswege, durch Schlaglöcher, über Wurzeln, Tannenzapfen. Diese Ruhe, die sich breitmacht in Kopf und Bauch, im gleichmäßigen Takt tretend, oder in Ms Takt, auf deren Hinterrad sich meine Augen konzentrieren.
Das ist jetzt vorbei. Kein Hinterrad mehr. Niemand mehr, der mir schweigend Gummibärchen entgegenstreckt, abends schonmal Gemüse schneidet, mir die Hand auf den Rücken legt, wenns grad nicht mehr geht. 400 km zusammen waren wir unterwegs, und jetzt, hier, im Göteborger Hafen, beginnt der eigentlich größere Teil dieser Reise, sowohl in Sachen Distanz als auch mentale Stärke.
Die ersten Kilometer allein
Ich bewege mich erstmal nordwärts, habe entlang der Route ein paar Cafés eingespeichert, bin ab heute mein eigener Gradmesser, was Hunger, Durst, müde betrifft. Die erste Anlaufstelle nach knapp 50 Kilometern ist ein privater Hof mit Hochbeeten, Yogakursen und Öko-Café. Die Tür steht offen, aber Gäste sind keine da. Die Tür zum Yogaraum geht auf – ein barfüßiger Junge.
„Vi kom just tillbaka från sommarhuset, caféet är stängt!“ „Wir sind gerade erst aus den Ferien zurück – das Café ist zu!“
ruft er mir zu und ist auch schon wieder verschwunden. Ich strample zurück zur Straße, weiter, 10 km, 20 km. Kaufe im Supermarkt Brot, Käse, Gummibärchen, esse alles direkt vor dem Laden auf. Kein Mensch weit und breit, nur die Brücke über den Fluss klappt ab und zu mit Motorgetöse und Alarmklingeln hoch, wenn Segelboote, deren Größe das Brückenklappen eigentlich nicht rechtfertigen, passieren.
Dieser erste Tag alleine auf dem Rad fühlt sich lang an. Niemand, der ihn strukturiert, sich eine Pause wünscht oder Hunger hat. Nur ich. Mein Rad und ich. Struktur macht heute das Angebot. In Trollhättan sind plötzlich die Straßen voll, es ist „Schleusenfest“ an diesem kleinen Städtchen entlang des Kanals, mit Zirkuszelten, Fahrgeschäften, Zuckerwatte und – endlich – Kaffee. Hier weiß ich noch nicht, dass ich nicht nur einen wunderschönen Naturpark, sondern dort auch einen herrlich sonnigen Platz für mein Zelt finden werde.
Der Morgen bringt ganz kurz Handynetz und einen Blick in die Wetterapp. 15 Minuten Zeit bis zur Regenwolke, ich packe meine Unterkunft aufs Rad und schaffe es gerade noch unter das Vordach einer Selbstversorgerhütte, als es plötzlich wie aus Eimern gießt. Kaffeekochen, Kekse essen, abwarten. Hier wäre es schön, wäre noch jemand da, zum gemeinsam Abwarten, für „noch einen Kaffee?“, für Tagesziele. Ich muss Akkus laden, ich möchte Brot kaufen, ich warte noch kurz, dann los, nieselt eh nur noch ein bisschen. Raus aus dem Park, eine längere Passage bergab auf Asphalt, das macht Spaß, trotz feuchter Luft im Gesicht. Mittags dann länger als eigentlich nötig im Café, neben den Steckdosen, bis die Akkuanzeigen wieder grün sind, aber egal, bin eh schon weit.
Gestern waren da noch Zweifel, große „fühlt sich dieses Alleine wirklich richtig an?“ Gedanken, größer als das Selbstvertrauen. Ich wußte von Vornherein, dass ich nach einer knappen Woche allein sein werde, aber dieses gemeinsame Projekt “Trelleborg nach Göteborg radeln” war so viel größer als der Gedanke daran, wie Weiterfahren ohne Begleitung sein könnte.
Nach nur einem Tag allein fühle ich, wie die Lust am Vorwärtskommen, Strecke machen, weiter ins Landesinnere kommen, die Grübelei verdrängt. Ich will campen, frei sein, ortsunabhängig, in Ruhe. Im größten je gesehenen Supermarkt habe ich Mühe, nicht mehr zu kaufen, als der wenige Stauraum auf meinem Fahrrad tragen kann, und aus dem „noch ein paar Kilometer“ werden knappe dreißig, bis ich beschließe, dass eine moosige Lichtung mein Schlafplatz ist.
Das obligatorische Vergessen
Es gibt beim Alleine Reisen solche Tage, die man noch Jahre später ins Detail nacherzählen kann und dann wieder solche, die fast schon am Tag selbst aus dem Gedächtnis verschwunden sind. Wie sehr ich mich auch anstrenge, ich müsste in GPS-Tracks zoomen, um die Erinnerungslücke zwischen der moosigen Lichtung und den zehn Kilometern Mountainbike Trail zu schließen, die mein Routenplaner mir am nächsten Tag (oder übernächsten?) präsentiert hat. Den obligatorischen täglichen Supermarktbesuch muss es auch an diesem Tag gegeben haben, denn die Nudelpackung, die auf meiner Satteltasche klemmte, wippte bedrohlich mit mir über den Trail. Ich hatte ein Hostel auf dem Gelände einer alten Farm gebucht, schlief im alten Pferdestall und entschied mich nach sehr viel Pasta&Pesto doch noch, am See unten Fotos zu machen. Doch-noch-Entscheidungen sind meistens Gute, so auch diese, trotz Mücken. Aber wenige, viel weniger als erwartet. Spiegelglatte Wasserfläche, klare Luft, ganz viel Stille. Es ist kurz nach Mittsommer, kaum richtig dunkel in der Nacht, die nächsten Tage soll es heiß werden. Deswegen ist die Wäsche im Zimmer auch schon trocken, als ich mich hinlege.
Ich schreibe diesen Text Monate nach der Reise, sehr prägende andere Erlebnisse liegen dazwischen und auch wenn mich mein Gedächtnis eigentlich schon ab Tag zwei der Solo-Tour im Stich lässt, fühlt sich die Erinnerung an den warmen schwedischen Wind an, als hätte er gestern noch meine Haut gestreift. Es gab einen Tag, an dem die ersten dreißig Kilometer wie im Flug vergingen – vielleicht ging es auch viel bergab? – und ich die erste Pause in einer kleinen Stadt an einem Fluß machte. Ein Markt war aufgebaut, es war am späten Vormittag, als ich mich zwischen Hot Dog Essende setzte und meinen riesigen Eisbecher gegen einen gierigen Vogel verteidigte. Lediglich die glitzernde flatternde Deko im Eis konnte ihm etwas Respekt einflößen.
Dann, vielleicht einen oder zwei Tage später, entschied ich mich, am Götakanal entlang zu fahren. Es hatte immer noch nicht geregnet, war immer noch so richtig heiß, so heiß, dass ich Nachts im Zelt kaum den Schlafsack ertrug, da schien mir nah am Wasser zu bleiben klug. Außerdem gab es entlang des Kanals überdurchschnittliche viele sehr schöne Orte mit sehr gutem Kuchen-Angebot. Und essen konnte ich ständig. Marta und ich waren uns schon nach zwei Tagen einig – auch wenn dieses Gespräch zwischen uns mir da am Götakanal wie vor einer halben Ewigkeit vorkam – dass wir uns erstens auf dem Fahrrad sehr zu Hause fühlen und zweitens immer Hunger haben. Beides war seitdem geblieben. Immer Hunger. Kuchen, Zimtschnecken, dann wieder irgendwas mit Brot, Nudeln, Sandwiches, dann wieder Kuchen. Eine ewige Schleife.
Wasser und Kuchen
Irgendwo am Kanal, an einer sehr schmalen, manuell betriebenen Schleuse, die Unterhaltung versprach – machte ich Pause auf einer Picknickbank, die schon von einem schwedischen Paar mit schwer bepackten Rädern besetzt war. Sie erzählten mir davon, dass sie jedes Jahr im Sommer ein bisschen mit den Rädern an irgendwelchen Flüssen entlang führen, dass dieses Gefühl der Freiheit, des Zeiteinteilens, wie es gerade passt, des Kennenlernens des eigenen Landes abseits von Hektik und Alltag, sich schon nach ganz kurzer Zeit auf dem Rad einstelle. Eigentlich schon beim Packen der Taschen. Ich fühle mich an das Rucksackpacken vor einer mehrtägigen Wanderung erinnert, das nach einigen Jahren des Hüttenwanderns eine Leichtigkeit ist. Ich muss nicht mehr viel Nachdenken über das, was mit muss, ich greife zu den gewohnten Dingen, packe sie in gewohnte Fächer und mache mir sehr selten Sorge, etwas zu vergessen. Beim Packen bin ich gedanklich schon mitten in der Reise, und diese Selbstverständlichkeit, dieses vorher-keinen-Stress-haben fühlt ich gut an. Die Unterhaltung mit dem schwedischen Pärchen am Kanal lässt mich große Vorfreude spüren, dass ich jetzt, mit dieser ersten längeren Bikepacking-Tour, vielleicht den Grundstein für eine neue Gewohnheit gelegt habe.
Ich weiß jetzt, wie meine Dinge an mein Fahrrad passen, dass ich bei diesem ersten Mal – vielleicht intuitiv – sehr vieles richtig gemacht habe, weil mir bisher kaum etwas gefehlt hat und kaum etwas zu viel war.
Zwei Tage von Stockholm entfernt habe ich mir ein Highlight gesucht (das würde ich bei einem nächsten Mal vielleicht anders machen: Mehr Highlights suchen, die die Reise strukturieren und dieses fahren-essen-schlafen unterbrechen), sowohl für die Nacht als auch den Morgen danach. Ich habe mich in eine Jugendherberge eingebucht, die in einem ehemaligen Wohnheim für Bergarbeiter untergebracht ist. Ein sehr gut erhaltenes, sehr original eingerichtet und liebevoll geführtes Gebäude auf dem Gelände einer ehemaligen Silbergrube, die ich am nächsten Morgen mit einer Führung besuche. Und weil ich ein Glückskind bin, beginnt es kaum eine halbe Stunde, nachdem ich mein Fahrrad entpackt habe, wie aus Eimern zu schütten. Ich liege in meinem Zimmer unter der Wolldecke, geduscht, Wäsche gewaschen und den Bauch voll mit einem auf einem Herd gekochten Essen, und höre dem Regen zu. “Läge ich jetzt im Zelt…” ist ein Gedanke, den ich gar nicht denken will. Und ja auch nicht muss. Nach dem Grubenbesuch am Vormittag kommt auch die Sonne wieder. Stockholm fühle ich zum Greifen nah.
Und so ist es dann auch. Nach Uppsala rase ich, um es noch in den Botanischen Garten zu schaffen, der um 16.00 Uhr schließt, und dann schlafe ich zum letzten Mal dieser Reise an einem See, das Zelt versteckt im Wald. Auf der anderen Uferseite feiern schwedische Sommerhausbesitzende den Sommer und mischen verhallte Elektromusik unter das patschpatsch der Wellen zwei Meter neben meinem Daunenjacken-Kopfkissen.
Den (vor)letzten Tag auf dem Rad (vor- weil der eigentlich letzte Tag der zur Fähre nach Hause sein wird) beginne ich extra langsam. Dennoch bin ich schneller als erahnt im S-Bahn Gebiet von Stockholm, mache extra lang Halt an einem der schönsten Gärtnereicafés, das ich kenne und stehe dennoch kurz nach Mittag vor meinem Hostel. So richtig begreifen, wie diese letzten Etappen so schnell vorbei ziehen konnten, kann ich da noch nicht.
Die drei Tage, die ich in Stockholm verbringe, sind nostalgischer als alle Besuche der letzten Jahre. Denn ich habe ein Rad, fahre die Orte meines Studiums ab, kann mich freier bewegen als zu Fuß und mit Öffis, habe ein “Projekt” und “arbeite” daran, vielleicht auch, um mich zu beschäftigen. Denn nach 1200 km auf dem Rad kann ich nicht Nichtstun. Die Tage kommen mir wahnsinnig lang vor, ich mir wahnsinnig träge und langsam.
Und froh bin ich, als mir dann auf der allerletzten Etappe zur Fähre nach Nynäshamn wieder die Sonne ins Gesicht scheint, als ich am Ufer sitze, wartend auf die lange Heimreise, mein Fahrrad bei mir und all die Dinge, die ich brauche, um glücklich und frei zu sein.
Es sind wenige, wichtige Dinge, und es macht mich glücklich, zu wissen, dass ich es gut mit mir aushalten kann.
Ich zweifle nicht mehr daran, dass die Entscheidungen, die ich in den letzten zwei Wochen allein getroffen habe, richtig waren, grüble nicht mehr dem “Wäre ich vielleicht doch besser nach Süden gefahren?” oder dem “War das ein schöner Zeltplatz oder hätte es einen besseren gegeben?” hinterher, denke mit großer Freude im Bauch an die vielen Gespräche zurück, die ich hatte, an die müden Beine, den müden Kopf, das immer wieder doch noch Aufraffen, um dann die Sonne im See verschwinden zu sehen, das Gefühl, dass diese Zeit genau richtig war, wie sie war. Der Gedanke gibt mir ganz schön viel Zuversicht und Stolz, da etwas gerockt zu haben, das ich mir vor wenigen Monaten noch nicht mal ansatzweise hätte vorstellen können.
Ich war knappe drei Wochen auf dem Rad, bin von Trelleborg nach Göteborg und von da über Trollhättan und irgendwie in Schlangenlinien um die Seen nach Stockholm gefahren. Insgesamt waren das gute 1200 km (davon 800 km allein) mit ca. 6000 Höhenmetern. Und ich würde es jederzeit wieder tun. Auch allein.
Danke an Marta und Hansi für die Begleitung auf den ersten 400 Kilometern. Ich werde die gemeinsame Zeit nie vergessen!
Im ehemaligen Hafen von Göteborg. Wie auf den Wellen dümpelnde Kähne stehen die türkis-grauen Wohnblöcke zwischen brachen Asphaltflächen, einem Gemeinschaftsgarten und dem Hafenbecken. Marta und Hans verschwinden um die Hausecke, und mit ihnen das Knirschen ihrer Füße und Fahrradreifen auf dem Kies. Ich räume die letzten Dinge aus der Ferienwohnung, packe mein Rad, sperre den Schlüssel ins Kästchen, starte mein Navi und fahre los.
Wir waren eine knappe Woche zu dritt unterwegs, immer laut, meistens lustig, immer zusammen, Tag und Nacht. Wir haben viele Sonnenstunden gesehen, ein ganz klein wenig Regen, haben zwei Tage gegen Wind gekämpft und sehr viel öfter gegen den Zimtschneckenklumpen im Bauch. Ich habe mich sofort heimisch gefühlt in Schweden, sobald wir – zehn Minuten nachdem wir den Fähranleger in Trelleborg verlassen hatten – die erste Kaffeetasse in der Hand hatten. Die Weizenfelder im Wind, rote Holzhäuser, Birkenwälder, immer am Meer entlang. Am nächsten Tag der längste Sandstrand des Landes, immer wieder Cafés am Wegrand, wir wollen am liebsten überall anhalten, haben aber ja noch was vor. Single Trails genauso wie die Randstreifen von Landstraßen. Zwanzig Kilometer geradeaus, von Dorf zu Dorf, dann scharf rechts und mitten im Wald. Hoppeln über Kieswege, durch Schlaglöcher, über Wurzeln, Tannenzapfen. Diese Ruhe, die sich breitmacht in Kopf und Bauch, im gleichmäßigen Takt tretend, oder in Ms Takt, auf deren Hinterrad sich meine Augen konzentrieren.
Das ist jetzt vorbei. Kein Hinterrad mehr. Niemand mehr, der mir schweigend Gummibärchen entgegenstreckt, abends schonmal Gemüse schneidet, mir die Hand auf den Rücken legt, wenns grad nicht mehr geht. 400 km zusammen waren wir unterwegs, und jetzt, hier, im Göteborger Hafen, beginnt der eigentlich größere Teil dieser Reise, sowohl in Sachen Distanz als auch mentale Stärke.
Die ersten Kilometer allein
Ich bewege mich erstmal nordwärts, habe entlang der Route ein paar Cafés eingespeichert, bin ab heute mein eigener Gradmesser, was Hunger, Durst, müde betrifft. Die erste Anlaufstelle nach knapp 50 Kilometern ist ein privater Hof mit Hochbeeten, Yogakursen und Öko-Café. Die Tür steht offen, aber Gäste sind keine da. Die Tür zum Yogaraum geht auf – ein barfüßiger Junge.
„Vi kom just tillbaka från sommarhuset, caféet är stängt!“
„Wir sind gerade erst aus den Ferien zurück – das Café ist zu!“
ruft er mir zu und ist auch schon wieder verschwunden. Ich strample zurück zur Straße, weiter, 10 km, 20 km. Kaufe im Supermarkt Brot, Käse, Gummibärchen, esse alles direkt vor dem Laden auf. Kein Mensch weit und breit, nur die Brücke über den Fluss klappt ab und zu mit Motorgetöse und Alarmklingeln hoch, wenn Segelboote, deren Größe das Brückenklappen eigentlich nicht rechtfertigen, passieren.
Dieser erste Tag alleine auf dem Rad fühlt sich lang an. Niemand, der ihn strukturiert, sich eine Pause wünscht oder Hunger hat. Nur ich. Mein Rad und ich. Struktur macht heute das Angebot. In Trollhättan sind plötzlich die Straßen voll, es ist „Schleusenfest“ an diesem kleinen Städtchen entlang des Kanals, mit Zirkuszelten, Fahrgeschäften, Zuckerwatte und – endlich – Kaffee. Hier weiß ich noch nicht, dass ich nicht nur einen wunderschönen Naturpark, sondern dort auch einen herrlich sonnigen Platz für mein Zelt finden werde.
Der Morgen bringt ganz kurz Handynetz und einen Blick in die Wetterapp. 15 Minuten Zeit bis zur Regenwolke, ich packe meine Unterkunft aufs Rad und schaffe es gerade noch unter das Vordach einer Selbstversorgerhütte, als es plötzlich wie aus Eimern gießt. Kaffeekochen, Kekse essen, abwarten. Hier wäre es schön, wäre noch jemand da, zum gemeinsam Abwarten, für „noch einen Kaffee?“, für Tagesziele. Ich muss Akkus laden, ich möchte Brot kaufen, ich warte noch kurz, dann los, nieselt eh nur noch ein bisschen. Raus aus dem Park, eine längere Passage bergab auf Asphalt, das macht Spaß, trotz feuchter Luft im Gesicht. Mittags dann länger als eigentlich nötig im Café, neben den Steckdosen, bis die Akkuanzeigen wieder grün sind, aber egal, bin eh schon weit.
Gestern waren da noch Zweifel, große „fühlt sich dieses Alleine wirklich richtig an?“ Gedanken, größer als das Selbstvertrauen. Ich wußte von Vornherein, dass ich nach einer knappen Woche allein sein werde, aber dieses gemeinsame Projekt “Trelleborg nach Göteborg radeln” war so viel größer als der Gedanke daran, wie Weiterfahren ohne Begleitung sein könnte.
Nach nur einem Tag allein fühle ich, wie die Lust am Vorwärtskommen, Strecke machen, weiter ins Landesinnere kommen, die Grübelei verdrängt. Ich will campen, frei sein, ortsunabhängig, in Ruhe. Im größten je gesehenen Supermarkt habe ich Mühe, nicht mehr zu kaufen, als der wenige Stauraum auf meinem Fahrrad tragen kann, und aus dem „noch ein paar Kilometer“ werden knappe dreißig, bis ich beschließe, dass eine moosige Lichtung mein Schlafplatz ist.
Das obligatorische Vergessen
Es gibt beim Alleine Reisen solche Tage, die man noch Jahre später ins Detail nacherzählen kann und dann wieder solche, die fast schon am Tag selbst aus dem Gedächtnis verschwunden sind. Wie sehr ich mich auch anstrenge, ich müsste in GPS-Tracks zoomen, um die Erinnerungslücke zwischen der moosigen Lichtung und den zehn Kilometern Mountainbike Trail zu schließen, die mein Routenplaner mir am nächsten Tag (oder übernächsten?) präsentiert hat. Den obligatorischen täglichen Supermarktbesuch muss es auch an diesem Tag gegeben haben, denn die Nudelpackung, die auf meiner Satteltasche klemmte, wippte bedrohlich mit mir über den Trail. Ich hatte ein Hostel auf dem Gelände einer alten Farm gebucht, schlief im alten Pferdestall und entschied mich nach sehr viel Pasta&Pesto doch noch, am See unten Fotos zu machen. Doch-noch-Entscheidungen sind meistens Gute, so auch diese, trotz Mücken. Aber wenige, viel weniger als erwartet. Spiegelglatte Wasserfläche, klare Luft, ganz viel Stille. Es ist kurz nach Mittsommer, kaum richtig dunkel in der Nacht, die nächsten Tage soll es heiß werden. Deswegen ist die Wäsche im Zimmer auch schon trocken, als ich mich hinlege.
Ich schreibe diesen Text Monate nach der Reise, sehr prägende andere Erlebnisse liegen dazwischen und auch wenn mich mein Gedächtnis eigentlich schon ab Tag zwei der Solo-Tour im Stich lässt, fühlt sich die Erinnerung an den warmen schwedischen Wind an, als hätte er gestern noch meine Haut gestreift. Es gab einen Tag, an dem die ersten dreißig Kilometer wie im Flug vergingen – vielleicht ging es auch viel bergab? – und ich die erste Pause in einer kleinen Stadt an einem Fluß machte. Ein Markt war aufgebaut, es war am späten Vormittag, als ich mich zwischen Hot Dog Essende setzte und meinen riesigen Eisbecher gegen einen gierigen Vogel verteidigte. Lediglich die glitzernde flatternde Deko im Eis konnte ihm etwas Respekt einflößen.
Dann, vielleicht einen oder zwei Tage später, entschied ich mich, am Götakanal entlang zu fahren. Es hatte immer noch nicht geregnet, war immer noch so richtig heiß, so heiß, dass ich Nachts im Zelt kaum den Schlafsack ertrug, da schien mir nah am Wasser zu bleiben klug. Außerdem gab es entlang des Kanals überdurchschnittliche viele sehr schöne Orte mit sehr gutem Kuchen-Angebot. Und essen konnte ich ständig. Marta und ich waren uns schon nach zwei Tagen einig – auch wenn dieses Gespräch zwischen uns mir da am Götakanal wie vor einer halben Ewigkeit vorkam – dass wir uns erstens auf dem Fahrrad sehr zu Hause fühlen und zweitens immer Hunger haben. Beides war seitdem geblieben. Immer Hunger. Kuchen, Zimtschnecken, dann wieder irgendwas mit Brot, Nudeln, Sandwiches, dann wieder Kuchen. Eine ewige Schleife.
Wasser und Kuchen
Irgendwo am Kanal, an einer sehr schmalen, manuell betriebenen Schleuse, die Unterhaltung versprach – machte ich Pause auf einer Picknickbank, die schon von einem schwedischen Paar mit schwer bepackten Rädern besetzt war. Sie erzählten mir davon, dass sie jedes Jahr im Sommer ein bisschen mit den Rädern an irgendwelchen Flüssen entlang führen, dass dieses Gefühl der Freiheit, des Zeiteinteilens, wie es gerade passt, des Kennenlernens des eigenen Landes abseits von Hektik und Alltag, sich schon nach ganz kurzer Zeit auf dem Rad einstelle. Eigentlich schon beim Packen der Taschen. Ich fühle mich an das Rucksackpacken vor einer mehrtägigen Wanderung erinnert, das nach einigen Jahren des Hüttenwanderns eine Leichtigkeit ist. Ich muss nicht mehr viel Nachdenken über das, was mit muss, ich greife zu den gewohnten Dingen, packe sie in gewohnte Fächer und mache mir sehr selten Sorge, etwas zu vergessen. Beim Packen bin ich gedanklich schon mitten in der Reise, und diese Selbstverständlichkeit, dieses vorher-keinen-Stress-haben fühlt ich gut an. Die Unterhaltung mit dem schwedischen Pärchen am Kanal lässt mich große Vorfreude spüren, dass ich jetzt, mit dieser ersten längeren Bikepacking-Tour, vielleicht den Grundstein für eine neue Gewohnheit gelegt habe.
Ich weiß jetzt, wie meine Dinge an mein Fahrrad passen, dass ich bei diesem ersten Mal – vielleicht intuitiv – sehr vieles richtig gemacht habe, weil mir bisher kaum etwas gefehlt hat und kaum etwas zu viel war.
Zwei Tage von Stockholm entfernt habe ich mir ein Highlight gesucht (das würde ich bei einem nächsten Mal vielleicht anders machen: Mehr Highlights suchen, die die Reise strukturieren und dieses fahren-essen-schlafen unterbrechen), sowohl für die Nacht als auch den Morgen danach. Ich habe mich in eine Jugendherberge eingebucht, die in einem ehemaligen Wohnheim für Bergarbeiter untergebracht ist. Ein sehr gut erhaltenes, sehr original eingerichtet und liebevoll geführtes Gebäude auf dem Gelände einer ehemaligen Silbergrube, die ich am nächsten Morgen mit einer Führung besuche. Und weil ich ein Glückskind bin, beginnt es kaum eine halbe Stunde, nachdem ich mein Fahrrad entpackt habe, wie aus Eimern zu schütten. Ich liege in meinem Zimmer unter der Wolldecke, geduscht, Wäsche gewaschen und den Bauch voll mit einem auf einem Herd gekochten Essen, und höre dem Regen zu. “Läge ich jetzt im Zelt…” ist ein Gedanke, den ich gar nicht denken will. Und ja auch nicht muss. Nach dem Grubenbesuch am Vormittag kommt auch die Sonne wieder. Stockholm fühle ich zum Greifen nah.
Und so ist es dann auch. Nach Uppsala rase ich, um es noch in den Botanischen Garten zu schaffen, der um 16.00 Uhr schließt, und dann schlafe ich zum letzten Mal dieser Reise an einem See, das Zelt versteckt im Wald. Auf der anderen Uferseite feiern schwedische Sommerhausbesitzende den Sommer und mischen verhallte Elektromusik unter das patschpatsch der Wellen zwei Meter neben meinem Daunenjacken-Kopfkissen.
Den (vor)letzten Tag auf dem Rad (vor- weil der eigentlich letzte Tag der zur Fähre nach Hause sein wird) beginne ich extra langsam. Dennoch bin ich schneller als erahnt im S-Bahn Gebiet von Stockholm, mache extra lang Halt an einem der schönsten Gärtnereicafés, das ich kenne und stehe dennoch kurz nach Mittag vor meinem Hostel. So richtig begreifen, wie diese letzten Etappen so schnell vorbei ziehen konnten, kann ich da noch nicht.
Die drei Tage, die ich in Stockholm verbringe, sind nostalgischer als alle Besuche der letzten Jahre. Denn ich habe ein Rad, fahre die Orte meines Studiums ab, kann mich freier bewegen als zu Fuß und mit Öffis, habe ein “Projekt” und “arbeite” daran, vielleicht auch, um mich zu beschäftigen. Denn nach 1200 km auf dem Rad kann ich nicht Nichtstun. Die Tage kommen mir wahnsinnig lang vor, ich mir wahnsinnig träge und langsam.
Und froh bin ich, als mir dann auf der allerletzten Etappe zur Fähre nach Nynäshamn wieder die Sonne ins Gesicht scheint, als ich am Ufer sitze, wartend auf die lange Heimreise, mein Fahrrad bei mir und all die Dinge, die ich brauche, um glücklich und frei zu sein.
Es sind wenige, wichtige Dinge, und es macht mich glücklich, zu wissen, dass ich es gut mit mir aushalten kann.
Ich zweifle nicht mehr daran, dass die Entscheidungen, die ich in den letzten zwei Wochen allein getroffen habe, richtig waren, grüble nicht mehr dem “Wäre ich vielleicht doch besser nach Süden gefahren?” oder dem “War das ein schöner Zeltplatz oder hätte es einen besseren gegeben?” hinterher, denke mit großer Freude im Bauch an die vielen Gespräche zurück, die ich hatte, an die müden Beine, den müden Kopf, das immer wieder doch noch Aufraffen, um dann die Sonne im See verschwinden zu sehen, das Gefühl, dass diese Zeit genau richtig war, wie sie war. Der Gedanke gibt mir ganz schön viel Zuversicht und Stolz, da etwas gerockt zu haben, das ich mir vor wenigen Monaten noch nicht mal ansatzweise hätte vorstellen können.
Ich war knappe drei Wochen auf dem Rad, bin von Trelleborg nach Göteborg und von da über Trollhättan und irgendwie in Schlangenlinien um die Seen nach Stockholm gefahren. Insgesamt waren das gute 1200 km (davon 800 km allein) mit ca. 6000 Höhenmetern. Und ich würde es jederzeit wieder tun. Auch allein.
Danke an Marta und Hansi für die Begleitung auf den ersten 400 Kilometern. Ich werde die gemeinsame Zeit nie vergessen!
Fotos: Hans-Martin Kudlinski (die Guten) und ich (die nicht so Guten)